Wie fährt es sich Rad in der kleinen Stadt?

Der nachfolgende Erfahrungsbericht vom ZEIT-Reporter Ulrich Stock ist bei ZEITonline am 03.08.2019 erschienen.
Quelle: https://www.zeit.de/hamburg/2019-08/strassenverkehr-fahrrad-fahren-verkehr-kleinstadt-sicherheit

Wie fährt es sich Rad in der kleinen Stadt?

Großstadtradler kämpfen täglich gegen Autotüren, Lkw und Abgase. Wie entspannt muss es in der Provinz zugehen! Eine knallharte Testfahrt durch Buchholz in der Nordheide.

Von Ulrich Stock, Buchholz in der Nordheide

Straßenverkehr: Viel Platz, wenige Autos – das Radfahren in einer Kleinstadt könnte so idyllisch sein. Könnte.
Viel Platz, wenige Autos – das Radfahren in einer Kleinstadt könnte so idyllisch sein. Könnte.© Jan-Henrik Plackmeyer

Vor einem Jahr erschien im ZEITmagazin als Titelgeschichte eine weit ausgreifende Radrecherche: Ich war durch 14 große europäische Städte geradelt, um die Fortschritte und Rückschläge des urbanen Radverkehrs am eigenen Leib zu erfahren. Wie geht es in Nimwegen und in Karlsruhe voran? Was ändert sich gerade in Paris? Warum ist es in Hamburg und Köln immer noch so schlimm? Am Ende konnte ich feststellen: Radverkehr ist derzeit in allen Metropolen ein Thema, aufgekommen durch zu viele Autos, zu schlechte Luft und eine wachsende Zahl schneller E-Bikes, für die herkömmliche Radwege zu eng und zu unsicher sind. Überall ist Bewegung in der Sache.

Kurz nach dem Erscheinen der Reportage erhielt ich Post aus Buchholz in der Nordheide, einem Hamburger Vorort: Ob ich meine Erlebnisse nicht einmal in einem Vortrag vorstellen könne?

Als ich dann an einem Montagabend im September in die Waldschule kam, staunte ich nicht schlecht: Da hatte der Verein Buchholz fährt Rad e. V. eingeladen, und an die 60 Leute hatten sich eingefunden, um zu hören und zu sehen, wie man sich an der Seine durch Einbahnstraßen quält und welche Lust man auf dem Hovenring in Eindhoven verspürt, jenem schwebenden Fahrradkreisel, der zu einer Touristenattraktion geworden ist. Radverkehr scheint auch in Buchholz in der Nordheide ein großes Thema zu sein. 

In der angeregten Diskussion schlug mir dann jemand vor, nach Ljubljana, Essen und Berlin, doch auch Buchholz einem Test zu unterziehen: Wie fährt es sich Rad in der kleinen Stadt? Ganz offenbar nicht so, wie die Radfahrerinnen und Radfahrer es sich wünschen.

Meine Vermutungen vorab waren diese: In einer kleinen Stadt ist Radfahren etwas Selbstverständliches. Die Distanzen sind geringer, der Autoverkehr fließt nicht dreispurig oder gar vierspurig. Der ÖPNV spielt keine so große Rolle. Öffentlicher Raum ist nicht so teuer, also sollten mehr Radwege drin sein.

Dem entgegen steht die Mentalität der Provinz: Man hat hier zu Zeiten noch Straßen verbreitert, als andernorts der Verkehr schon beruhigt wurde. Man ist in vielem hinterher, auch weil es am Selbstbewusstsein fehlt, etwas Neues zu versuchen.

Wie wird es in Buchholz sein?

An einem sommerlichen Montagnachmittag steige ich mit meinem Faltrad in Hamburg in den Metronom. Das Fahrradabteil quillt über von Pendlern, die in den Abteilen keinen Platz mehr gefunden haben. Sie drängeln sich in der Hitze, einige hocken auf dem Fußboden, Schweiß tropft von den Stirnen, Räder gibt es kaum. Wer zwischen beiden Städten pendelt, hat ein Rad hier und ein Rad da. Mitnehmen ist zu umständlich und zu teuer. Und im Zweifel passt das Rad nicht mehr in den Wagen. Im Fahrplan ist der Zug allen Ernstes mit drei Sardinen gekennzeichnet: als immer voll.

Drei Sardinen! Vielleicht hätte man so ein Symbol an der Autobahn A7 aufstellen sollen, statt sie für irrwitziges Geld jahrelang sechsspurig auszubauen. Was die Autofahrer im Dauerstau wohl gesagt hätten.

Den ersten Eindruck vom Radfahren in Buchholz gewinne ich aus luftiger Höhe: auf der Brücke am Bahnhof, die über die Gleise führt. Schnell bin ich oben, einem Fahrstuhl sei Dank, runter ist es schwieriger: Denn der zweite Fahrstuhl ist wegen Vandalismus geschlossen, und das offenbar nicht erst seit gestern. So bleibt nur die Treppe, auf der es immerhin eine, wenn auch enge, Spurrinne für Fahrräder gibt.

Der defekte Lift überrascht mich nicht. Wann immer ich mit dem Rad an einem Bahnhof bin, geht ein Aufzug nicht. Und immer frage ich mich, wie viele Leute nach mir vor verschlossenen Türen stehen, bis endlich das Reparaturteam kommt. Auch hier liegt die boshafte Vermutung nahe: Eine durch Raserei zerschossene Leitplanke an der Autobahn ist schneller instand gesetzt.

Viele Vorbeiradelnde grüßen unsere Karawane: Man kennt sich

An den Fahrradständern des Bahnhofs erwarten mich vier Aktivisten vom Buchholzer Fahrradverein. Da ist Peter Eckhoff, der Initiator, von Beruf Fondsmanager in Hamburg. Da ist Jürgen Dee, niedergelassener Neurologe in Buchholz. Da sind Thomas Winkelmann, der Rechtsanwalt und Steuerberater, und Oliver Kröger, der IT-Fachmann. Vier etablierte Herren um die 50, denen der Job und die Familie wieder so viel Zeit lassen, dass sie sich politisch betätigen können. Dem Bild der Ökospinner und Pedalapostel, das von Radaktivisten gern gezeichnet wird, entsprechen sie so gar nicht. Allerdings ist keine Frau unter ihnen, was sie – genderpolitisch korrekt – sogleich bedauern: Mitstreiterinnen seien ihnen herzlich willkommen, zurzeit aber leider kaum vorhanden.

Sie weisen mich auf die von der Stadt aufgestellten Radkäfige am Bahnhof hin, die Pendler für wenig Geld mieten können: ein zuverlässiger Schutz vor Diebstahl und Zerstörung. Dazu stehen sechs vom Verein nach Wiener Vorbild angeregte Buchholzer Pumpen kostenlos bereit, wenn jemand mehr Druck auf den Reifen braucht. Als Tester stöpsele ich mein Rad gleich an: Die erste Pumpe geht nicht – eine Erinnerung daran, dass jede Neuerung immerfort Wartung braucht.

Buchholzer Pumpe am Bahnhof: Hier gibt es Druck, wenn die Pumpe denn geht. Der Fahrstuhl am Gleis hinten funktioniert seit Wochen nicht.
Buchholzer Pumpe am Bahnhof: Hier gibt es Druck, wenn die Pumpe denn geht. Der Fahrstuhl am Gleis hinten funktioniert seit Wochen nicht. © Jan-Henrik Plackmeyer

Nun auf zur Rundfahrt! Buchholz als Kleinstadt zu bezeichnen wäre falsch. Mit 38.000 Einwohnern gilt sie als Mittelstadt, zählt also zu jenem schwer definierbaren Dazwischen, das allzu oft die Unwirtlichkeit der Großstadt mit den Mängeln der Kleinstadt verbindet. Für Buchholz scheint das nicht zu gelten. Gefühlt ist es eine lebendige Kleinstadt; abzuleiten schon an den vielen Vorbeiradelnden, die unsere Inspektionskarawane händehebend grüßen: Man kennt sich.

In der Neuen Straße hinterm Bahnhof fahren wir an schmucken Parkbuchten vorbei; einen Radweg gibt es nicht. Es ist ja für die Stadtplanung auch immer wieder überraschend, dass jemand vom Bahnhof mit dem Rad in die Stadt fährt. Weiter geht es in die Fußgängerzone, in der man (Pluspunkt!) nicht absteigen muss, vorbei am Budni-Drogeriemarkt, der werbewirksam („mehr Rad, weniger CO2“) einen Fahrradständer vor seinen Eingang gestellt hat. Stehen allerdings keine Räder drin, stehen alle daneben. „Kein Wunder“, erläutern meine Wegbegleiter, „das ist ein Felgenkiller.“

Diese kleine Beobachtung wird zum Leitmotiv alles Weiteren: die plakative Absicht, die scheitert.

Sie findet ihren vollendeten Ausdruck in der E-Bike-Ladestation in der Breiten Straße, die mit ihrer aufragenden Werbe-Stele wie ein Denkmal vergeblichen oder auch nur vorgeblichen Bemühens wirkt. Solarzellen und ein Windturbinchen spenden symbolische Energie, auf Gedenktafeln haben sich die Sponsoren des Ensembles verewigt: die Stadtwerke Buchholz, die AOK, sogar McDonald’s und VW Köhnke.

Wie funktioniert die Ladestation? „Schlüssel erhalten Sie während der Öffnungszeiten an der Kundeninformation“ steht drauf, was nicht hilft, wenn die Batterie so leer ist wie die Kundeninformation zu. Und was ist das überhaupt, die Kundeninformation, und wo wäre sie? Ah, im Rathaus. Was leider auch nicht hilft, wenn das Rathaus offen ist, denn eine zweite Aufschrift auf der Ladestation verkündet: „Leider außer Betrieb!“

„In den letzten zehn Jahren ist sie vielleicht dreimal benutzt worden“, sagen die Buchholzer Fahrradaktivisten, teils feixend, teils ergrimmt.

Ich teile ihre gemischten Gefühle. Das groteske Energieversorgungsmonument war der gemeinsame Versuch von Stadt und Einzelhandel, mit minimalem Aufwand eine Zukunftsorientierung zu simulieren – ohne auf wirkliche Bedürfnisse einzugehen, die ein Konzept und ein vernetztes Denken brauchen. Die Buchholzer Radfahrer haben Strom zu Hause. Was bringt ihnen eine Ladesäule?

700 Meter über Hubbel ins Nichts

Ähnlich verhält es sich mit der einzigen Fahrradstraße der Stadt, die im Jahr 2015 sogar die erste im Landkreis Harburg war. Sie ist ein 700 Meter langer Solitär, fängt irgendwo an und hört irgendwo auf, ohne Plan, ohne Anbindung. Und was noch verrückter ist: Die Fahrradstraße war vor ihrer Umwidmung eine verkehrsberuhigte Zone, Tempo 30, mit Hubbeln und Verschwenkungen, die immer noch da sind, weil es Geld gekostet hätte, sie abzubauen. Man hat einfach nur ein paar weiße Rad-Symbole auf den Asphalt gemalt und ein paar Fahrradstraßen-Schilder aufgestellt: fertig! Somit dürfte Buchholz zu den wenigen Städten in Deutschland zählen, die unter einer Fahrradstraße einen Hindernisparcours verstehen. Sollte man gelegentlich unter Denkmalschutz stellen, als Anschauungsobjekt für kommende Generationen von Verkehrsarchäologen.

Ende der Fahrradstraße: Wo, bitte, geht es hier jetzt weiter?
Ende der Fahrradstraße: Wo, bitte, geht es hier jetzt weiter? © Jan-Henrik Plackmeyer

Nun noch ein Höhepunkt des Buchholzer Planungswesens. Am Schulzentrum I wird eine verkehrsberuhigende Maßnahme zurückgebaut, damit die Autos wieder besser und schneller fahren können. Weil die Verengung der Fahrbahn die Pkw-gestützte Schüleranlieferung und -abholung durch die Eltern allzu sehr behinderte, hat man die vor Jahren gepflanzten Bäume abgesägt, um die Straße neuerlich zu verbreitern. Ihre Stümpfe ragen noch auf als stumme Zeugen eines Mobilitätsfrevels: Denn der Autoverkehr, liebe Eltern der Fridays-for-Future-Kiddies, führt in die Vergangenheit, nicht in die Zukunft.

So geht es weiter. Wir fahren über enge, zerklüftete Fußwege, die nur durch ihre Beschilderung als Radwege zu erkennen sind, lehnen unsere Räder an das schicke Buchholzer Einkaufszentrum („Räder anlehnen verboten“), und immerhin kann ich in der Schafdrift einen herrlichen Radweg bestaunen, der vor sagenhaften 15 Jahren angelegt wurde, aber leider immer noch nur 300 Meter lang ist.

Den eingetragenen Verein Buchholz fährt Rad e.V. gibt es seit dem April 2018. Er ging aus einer lockeren Initiative hervor, die eine juristische Form annahm, um Fördermittel für die Anschaffung von Lastenrädern zu bekommen. 75 Mitglieder; monatlich gibt es Vorträge. Die Liste der Vortragenden liest sich wie ein Who is Who der Mobilitätsexperten. Der Fahrradpapst Heiner Monheim war schon da, zum Berliner Zukunftsforscher Stephan Rammler –  er schrieb Volk ohne Wagen – kamen 150 Besucher; am 15. Januar 2020 wird Maja Göpel von Scientists for Future erwartet.

Der Verein kümmert sich inzwischen um das Stadtradeln, das in diesem Jahr zum fünften Mal stattgefunden hat. Bei der dreiwöchigen Aktion geht es darum, bewusst mehr Wege mit dem Rad zurückzulegen und dies auch zu dokumentieren. Die Zahl der Teilnehmer wächst von Jahr zu Jahr, 2018 waren es 1.037 („erstmals vierstellig“), in diesem Jahr 1.206.

Orientierung in der Fußgängerzone: Tester Stock im Gespräch mit Aktivist Eckhoff im Kreise Buchholzer Fahrradfreunde. Der Wegweiser in Richtung Ehestorf hängt schon etwas durch. (v. l. n. r.: Jürgen Dee, Ulrich Stock, Peter Eckhoff, Thomas Winkelmann, Oliver Kröger)
Orientierung in der Fußgängerzone: Tester Stock im Gespräch mit Aktivist Eckhoff im Kreise Buchholzer Fahrradfreunde. Der Wegweiser in Richtung Ehestorf hängt schon etwas durch. (v. l. n. r.: Jürgen Dee, Ulrich Stock, Peter Eckhoff, Thomas Winkelmann, Oliver Kröger) © Jan-Henrik Plackmeyer

„Wir sind 185.000 Kilometer mit dem Rad gefahren und haben 26 Tonnen CO2 vermieden“, sagt Peter Eckhoff, „ein spürbarer Beitrag zum Klimaschutz.“

Vom Herbst 2019 an soll es fünf elektrische Lastenräder in Buchholz zum Ausleihen geben, wenn denn die beantragten Bundesmittel aus der Nationalen Klimaschutzinitiative bewilligt werden. Es wäre eine Mobilitätsmöglichkeit für jene, die kein Auto haben oder die ausprobieren wollen, wie es ohne geht. Man wird sehen müssen, ob dieses Angebot besser angenommen wird als die E-Bike-Ladestation.

50 Prozent aller Autofahrten in Buchholz seien kürzer als fünf Kilometer, 20 Prozent sogar unter zwei, sagen die Aktivisten, auf eine Erhebung der Stadt verweisend: Hier gebe es fürs Rad eindeutig Potential.

Einen Radfahrverein sollte jede Kleinstadt haben

Dem bürgerschaftlichen Engagement des Vereins und dem persönlichen Umdenken der Bürger steht das Verhalten der Kommune gegenüber, die mehr tun könnte. 50.000 Euro im Jahr sind im Haushalt explizit für den Radverkehr ausgewiesen, das entspricht 1,25 Euro pro Einwohner oder – wie Peter Eckhoff ausgerechnet hat – 150 Metern Radweg. Damit kommt man nicht weit.

In der Stadt wird zudem an der Umsetzung eines geradezu fossilen Plans gearbeitet: endlich die Umgehungsstraße zu bauen, die seit den Siebzigerjahren in Planung ist. Weniger Autos in der Stadt durch mehr Straße? Daran glaubt im Fahrradverein niemand. „Das ist wie Übergewicht mit einer größeren Hose zu bekämpfen“, frotzelt Eckhoff. Mehr Radverkehr durch ein besseres Wegenetz und Lastenräder, darauf setzen die Aktivisten.

Am Ende sind wir dreieinhalb Stunden durch Buchholz geradelt, und das Resümee meines Tests fällt eher nüchtern aus. Buchholz in der Nordheide könnte anderen kleinen Städten in einer Hinsicht allerdings Vorbild sein: So einen Fahrradverein sollte jede Stadt haben, damit Politik und Verwaltung beim Radverkehr künftighin stärker in die Pedale treten, statt  immer nur auf der Bremse zu stehen.“

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