Jedes Jahr versuchen wir inzwischen eine Stadt zu besuchen, die als Fahrradstadt gilt, und gucken uns an, was diese so fahrradfreundlich macht. Wir wollen erfahren, was die Erfolgsfaktoren sind und nehmen auch gerne Best-Practice-Beispiele mit zurück nach Buchholz. Nach Kopenhagen (2019), Groningen (2022) und Utrecht (2024) war nun Tübingen an der Reihe.
Zu siebt waren wir mit der Bahn am 15.08.2025 aufgebrochen. Trotz eines Schienenersatzverkehrs zwischen Stuttgart und Tübingen kamen wir planmäßig an und konnten noch vor Geschäftsschluss des Fahrradgeschäfts RADlager unsere Leihfahrräder in Empfang nehmen. Ohne Rücksicht auf die Tübinger Topografie entschieden wir uns für muskelbetriebene „Bio-Bikes“. Wir hatten uns gegen eine Fahrradmitnahme im Zug entschieden, weil es das Umsteigen erschwert hätte. Bereut haben wir diese Entscheidung nicht. Es war nur schwierig, einen Verleiher zu finden, der es ermöglichte, die Räder an einem Sonntag wieder zurückzugeben. Für Ludger Lammert vom RADlager war das kein Problem. Er hatte sich nur für uns am Sonntag in seinen Laden aufgemacht, um unsere Räder wieder in Empfang zu nehmen. Diese Fahrradfreundlichkeit begeisterte uns und als kleines Dankeschön ließen wir ihm einen Heidehonig da.
Bis wir im Biergarten am Neckar zu Abend essen wollten, hatten wir noch etwas Zeit und fuhren auf einer ersten Erkundungstour ein wenig durch Tübingen. Eigentlich war für Samstagnachmittag geplant, dem unserer Meinung nach weltbesten Nabendynamohersteller Wilfried Schmidt Maschinenbau (SON – Schmidts Original Nabendynamo) einen Besuch abzustatten. Da dieser aber just an diesem Wochenende in neue Räumlichkeiten umzog, musste unser Besuch leider abgesagt werden. Wir sind aber dennoch vorbeigefahren. Als wir gegen 17:45 Uhr ankamen, sahen wir zu unserer Überraschung noch zwei Damen im Büro am Arbeiten. Die Fenster im Erdgeschoss waren aufgrund der sommerlichen Temperaturen weit geöffnet, so dass wir kurz „Hallo“ sagten und fragten, ob eine der beiden zufällig Katrin war, mit der wir im Vorwege per E-Mail Kontakt hatten. Das verneinten beide, fragten aber, was wir denn von Katrin wollten. Wir berichteten vom unerfüllten Wunsch einer Firmenführung. Das ließen die beiden nicht auf sich sitzen. Sie erzählten uns, dass der Umzug besser verlief als erwartet. Sie seien für heute eigentlich schon fertig und würden nun einfach mal den Chef holen.

Es stellte sich heraus, dass die beiden Damen Ehefrau und Tochter des Firmengründers Wilfried Schmidt sind … und Katrin die zweite, ältere Tochter. Begeistert berichtete uns Wilfried schließlich von der Firmengeschichte, dem bisherigen Firmenstandort im Französischen Viertel, an dem die Familie nicht nur seit fast 30 Jahren arbeitet, sondern auch wohnt, vom Umzug der Firma nach Kusterdingen und dem neuesten Produkt Ladelux, einem Nabendynamo-Scheinwerfer mit Fernlicht und USB-Ladefunktion, der uns Fahrradenthusiasten das Herz schneller schlagen ließ.


Als wir nach ca. einer Stunde begannen, uns von Familie Schmidt zu verabschieden, fuhr zufällig die Tübinger Critical Mass vorbei, der wir uns sodann anschlossen. Dabei ging es u. a. durch den Fahrradtunnel unter dem Schlossberg hindurch. Die Critical Mass endete schließlich im Alten Botanischen Garten.



Am Samstagmorgen waren wir um 10 Uhr mit Thomas Swain („Tom“) vom Tübinger Tiefbauamt verabredet. Er ist u.a. für die Radbrücken zuständig und selbst fast ausschließlich mit dem Fahrrad unterwegs. Ein Auto besitzt er nicht. Drei Stunden ließen wir uns die Highlights der Tübinger Fahrradinfrastruktur zeigen und fachlich erklären. Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Einfach toll und beeindruckend.
Wir starteten mit der Radbrücke Mitte, die direkt vor unserem Hotel lag. Sie ist die erste von vier neuen Radbrücken und wurde im Juli 2021 eröffnet. Sie wurde anlässlich der Erneuerung der benachbarten Autobrücke errichtet, damit Fußgänger und Radfahrende die Steinlach, einem Nebenfluss des Neckars, auch während der Bauarbeiten überqueren konnten. Nach Fertigstellung ist sie nun nur für Radfahrende freigegeben. Dadurch konnte sie weniger breit (vier Meter) – also günstiger – gebaut werden. Bei Youtube kann mein ein Video sehen, das im Zeitraffer den Einhub der Brücke im November 2020 zeigt (siehe hier). Das besondere an der Brücke ist, dass sie im Winter – über Sensoren gesteuert – beheizt wird. Dadurch kann dort auf Streusalz verzichtet werden, was die Stahlbrücke deutlich langlebiger macht.



Weiter ging es bequem auf dem Fahrradstraßennetz durch die Tübinger Südstadt und dem Mühlenviertel zur nächsten Fahrradbrücke, der Ann-Arbor-Brücke, benannt nach der US-amerikanischen Partnerstadt von Tübingen. Mit einer Länge von 387 Metern ist sie die längste Fahrradbrücke Tübingens und ist eine neue komfortable Verbindung über die Bahngleise vom Behördenzentrum zum Bahnhof. Sie wurde 2019 durch den Gemeinderat beschlossen und bereits nach fünf Jahren Planungs- und Bauzeit im Oktober 2024 eröffnet. Auch diese Brücke wird im Winter beheizt, wenn die Temperatur unter 4 °C liegt und die Luftfeuchtigkeit über 95% beträgt. Ingenieurtechnisch ist interessant, dass die Brücke ohne die sonst üblichen Dehnfugen auskommt, weil die Längendifferenzen über die schlangenlinienartige Führung aufgenommen werden. Mehr Komfort für uns Radler:innen.



Im Norden ist die Ann-Arbor-Brücke über einen Fahrradkreisel an das Blaue Band angeschlossen. Das Blaue Band ist eine bequeme und sichere Ost-West-Route (mit Vorrang für den Radverkehr) von der Ann-Arbor-Brücke vorbei am Bahnhof mit Radstation bis zur Radbrücke Ost, die zukünftig auch die Radschnellwegeverbindungen nach Reutlingen und Rottenburg miteinander verbinden soll.



Über das Blaue Band kamen wir dann auch zur neuen Radstation am Bahnhof, die im Zuge der Umgestaltung des gesamten Bahnhofsvorplatzes entstanden ist. Diese beinhaltet ein Café, Toiletten, einen Fahrradverleih, eine Fahrradwerkstatt sowie eine Fahrradwaschanlage. In der Fahrradtiefgarage finden 1.100 Fahrräder Platz. 700 Plätze sind kostenfrei und videoüberwacht. 400 Plätze sind kostenpflichtig und befinden sich in einem gesicherten Bereich. Auch an Plätze für Lastenräder, Räder mit Anhängern oder andere Spezialräder wurde gedacht, ebenso an eine Reparaturstation und an Schließfächer mit Lademöglichkeit für Akkus, Handies und dergleichen. Auch ein kleines Autoparkhaus beinhaltet das Gebäude, mit Platz für 72 PKW. Ein Ausdruck der gewollten Priorisierung des Verkehrs in der Tübinger Innenstadt.



In Richtung Osten ging es dem Blauen Band folgend zu den beiden neuen Radbrücken über den Neckar. Zum einen die Radbrücke Ost, die im Juli 2023 am Neckar-Stauwehr eröffnet wurde. Und zum anderen die Fuß- und Radbrücke Lustnau, die erst im Juli diesen Jahres fertiggestellt wurde. Beide Brücken wurden gebaut, um die Querung des Neckars für Radfahrende bequemer zu machen. Am Stauwehr gab es zuvor „nur“ eine schmale Brücke, die sich Fußgänger und Radfahrende teilten. Mit der neuen Brücke ist nun der Fuß- vom Radverkehr getrennt. Die Brücke ist 85 Meter lang, vier Meter breit und wird – natürlich – auch im Winter beheizt. Zudem wird in südlicher Verlängerung gerade eine Rad- und Fußgängerunterführung am Güterbahnhof gebaut.



Die Fuß- und Radbrücke Lustnau ersetzt eine alte schmalere Brücke, die man nur über ein paar Treppenstufen erreichte. Nun ist eine barrierefreie Querung möglich. Die Brücke ist rd. 70 Meter lang und 5,50 Meter breit. Anders als bei den anderen neuen Brücken, wurde hier ein Wunsch aus der Bevölkerung erfüllt und eine Holzbrücke gebaut. Mittlerweile ist auch eine Holzbauweise so langlebig wie ein Stahlbau, berichtete uns der Fachmann Tom.
Bei einem kühlen Kaltgetränk in der Gasthausbrauerei Neckarmüller verabschiedeten wir uns von Tom, der erst am Vortrag aus dem Urlaub im Fahrradland Niederlande zurückkam und noch seinen Geburtstag am Sonntag vorbereiten wollte. Umso dankbarer sind wir ihm, dass er sich dazwischen für uns Zeit nahm. Als kleinen Dank überreichten wir ihm unser Buff-Halstuch im Buchholz fährt Rad Design und natürlich ein Glas Heidehonig. Wir werden mit ihm definitiv über diesen Besuch hinaus in Kontakt bleiben.
Als wesentliches Fazit bleibt bei uns hängen, dass der fahrradfreundliche Umbau von Tübingen nur mit einem willens- und durchsetzungsstarken Oberbürgermeister Boris Palmer (seit Anfang 2007 im Amt und danach bereits zweimal wiedergewählt), einer progressiven Mehrheit im Gemeinderat, einem motivierten Team in der Stadtplanung und im Tiefbauamt sowie hohen Fördermitteln des Bundes und Landes umsetzbar ist. Die vier besichtigten Radbrücken sowie der Umbau des Bahnhofsvorplatzes sind in rekordverdächtiger Zeit innerhalb der letzten vier Jahre umgesetzt worden. Und Tübingen plant noch mehr (siehe Radverkehrskonzept 2030).
Schon jetzt gibt es aber schon viele weitere Dinge, die Tübingen fahrradfreundlich machen, z. B. Kiss-and-Ride-Zone an einer Schule, einen Pumptrack, Reparaturstationen mit Luftpumpen und großzügig dimensionierte Fahrradabstellanlagen.




Mögliche weitere Maßnahmen zur Radverkehrsförderungen werden vor Planung und Umsetzung in der lokalen Arbeitsgruppe Fuß- und Radverkehr besprochen. In diesem Expertengremium zur Förderung nachhaltiger Mobilität im Alltag sind der ADFC, der VCD, der Radentscheid Tübingen, der Jugendgemeinderat, Fridays for Future und die Verkehrsplanungsabteilung der Stadt Tübingen vertreten.
Am Samstagnachmittag sind wir mit unseren Leihrädern ins Ammertal, also ins Tübinger Umland gefahren, bis Herrenberg und wieder zurück. Auch dort ist ein vorbildlicher Radweg entstanden, der u.a. von Radpendler:innen und Freizeitradler:innen viel genutzt wird (sogar mit Ortsschildern!).



Dieser Radweg ist auch für S-Pedelecs zur Nutzung freigegeben und gehört zu einem durchgängigen Netz für S-Pedelecs (von ca. 70 km Länge), dass die Ortsteile mit dem Tübinger Zentrum verbindet. Dieses wurde bereits 2019 als bundesweit erstes seiner Art ausgewiesen und beschildert. Auf dem Weg ins Ammertal sind wir am neuen Gewerbegebiet Aischbach II vorbeigefahren. Dieses wurde erst vor zwei Monaten eröffnet. Der KFZ-Verkehr wird mit Hilfe eines STOP-Schilds dazu angehalten, dem Radverkehr Vorrang einzuräumen. Auch baulich ist der Vorrang des Radverkehrs gut zu erkennen.



Wenn du mehr über den Radverkehr und seine Förderung in Tübingen erfahren möchtest, kannst du dich hier auf der Internetseite der Stadt Tübingen weiter informieren. Oder sprich uns einfach an.
Wir waren das Wochenende über nicht nur mit unseren Leihrädern unterwegs, denn Tübingen ist auch ansonsten eine schöne und lebendige Universitätsstadt. Leider mussten wir diese am Sonntagmittag schon wieder verlassen, aber definitiv als Tübingen-Fans. Zwei von uns kehren bereits Anfang September im Rahmen der Kaffee-Radeltour 2025 nach Tübingen zurück. Die Vorfreude dürfte nach unserem Wochenende definitiv gestiegen sein.


